C. G. Jung

Kleinstes mit Sinn ist immer lebenswerter als Größtes ohne Sinn.

 

Das «innere Leben» wird meist als Un­sinn betrachtet und soll tunlichst ausgeschaltet werden.

Merkwürdigerweise gilt das heute für den Osten ebenso wie für den Westen.

 

Wir haben Angst, die Existenz eines inneren Le­bens zuzugeben.

Das könnte ja «pathologisch» sein ... Meinungen sind uns wichtiger als wirkli­ches Leben ...

 

Die Psychoneurose ist im letzten Verstande ein Leiden der Seele, die ihren Sinn nicht gefunden hat.

Aus dem Leiden der Seele aber geht alle geistige Schöpfung hervor und jeglicher Fortschritt des geistigen Menschen, und der Grund des Leidens ist der geistige Stillstand, die seelische Unfrucht­barkeit.

 

Mit dieser Erkenntnis betritt der Arzt nunmehr ein Gebiet, dem er sich nur mit größtem Zögern naht.

Hier nämlich tritt die Notwendigkeit an ihn heran, die heilende Fiktion, die geistige Bedeu­tung zu übermitteln, denn das ist es ja, wonach der Kranke verlangt, jenseits all dessen, was Ver­nunft und Wissenschaft ihm geben können.

Der Kranke sucht das, was ihn ergreift und der chaoti­schen Verworrenheit seiner neurotischen Seele sinnvolle Gestalt verleiht.

Ist der Arzt dieser Auf­gabe gewachsen?

Er wird seinen Patienten wohl zunächst an den Theologen oder Philosophen weisen oder ihn der großen Ratlosigkeit der Zeit überlassen.

Als Arzt ist er ja durch sein professio­nelles Gewissen nicht verpflichtet, eine Weltan­schauung zu haben.

Was wird aber, wenn er nur allzu deutlich sieht, woran sein Patient krankt, dass er nämlich keine Liebe hat, sondern bloß Se­xualität, keinen Glauben, weil ihn die Blindheit schreckt, keine Hoffnung, weil ihn Welt und Leben desillusioniert haben, und keine Erkenntnis, weil er seinen eigenen Sinn nicht erkannt hat?

 

Zahlreiche gebildete Patienten weigern sich kate­gorisch, zum Theologen zu gehen. Vom Philoso­phen wollen sie schon gar nichts hören, denn die Geschichte der Philosophie lässt sie kalt, und der Intellektualismus ist ihnen öder als die Wüste.

Und wo gibt es die großen Lebens und Weltwei­sen, die nicht bloß von Sinn reden, sondern ihn auch haben?

 

Es ist der Vorzug und die Aufgabe des reiferen Al­ters, das die Mittagshöhe des Lebens überschrit­ten hat, Kultur zu erzeugen.

 

Von der Lebensmitte an bleibt nur der lebendig, der mit dem Leben sterben will.

 

Der Nährboden der Seele ist das natürliche Le­ben.

Wer dieses nicht begleitet, bleibt in der Luft hängen und erstarrt.

Darum verholzen so viele Menschen im reifen Alter, sie schauen zurück und klammern sich an die Vergangenheit mit gehei­mer Todesfurcht im Herzen.

Sie entziehen sich dem Lebensprozess wenigstens psychologisch und bleiben darum als Erinnerungssalzsäulen stehen, die sich zwar noch lebhaft an ihre Jugendzeit zu­rückerinnern, aber kein lebendiges Verhältnis zur Gegenwart finden können.

Von der Lebensmitte an bleibt nur der lebendig, der mit dem Leben sterben will.

Denn das, was in der geheimen Stunde des Lebensmittags geschieht, ist die Um­kehr der Parabel, die Geburt des Todes.

 

Alle Kultur ist Erweiterung unseres Bewusstseins.